Worin zeigt sich die Entwicklung einer Stadt? Wie lassen sich Gebäude am besten fotografieren? Und auf welche Weise hauchen wir Menschen Beton und Metall Leben ein? Mit diesen Leitfragen sind Jugendliche, die im ipcenter die Überbetriebliche Lehrausbildung Medienfachmann/-frau (m/w/x) absolvieren, zwei Tage lang durch Wiener Stadtentwicklungsgebiete gegangen und haben ihre Eindrücke fotografisch festgehalten. Die gelungensten Fotografien sind in der Ausstellung „Vivi Civitas“, auf Deutsch „Lebende Stadt“, versammelt, die bis zum 28. Jänner 2024 in der Kunsthalle Wien zu sehen ist.
Was in der Ausstellung spürbar wird, ist die Identifikation der Jugendlichen sowohl mit ihren Werken als auch mit dem Kunstprojekt insgesamt. Unter Anleitung der Fotografin Lisa Zalud haben sie mit ihrer Klasse 3fMF der Berufsschule für Chemie, Grafik und gestaltende Berufe nicht nur Strategien entwickelt, um den Wiener Stadtraum auf individuelle Art zu entdecken, sondern aus den dabei entstandenen Fotos auch selbst die besten für die Ausstellung ausgewählt und die passenden Texte geschrieben. Am Tag vor der Ausstellungsöffnung waren sie um 8 Uhr morgens in der Kunsthalle, um ihre Werke aufzuhängen. „Was Sie hier sehen, ist zu 95 Prozent eine Leistung der Jugendlichen”, erklärt Michael Simko von der Kulturvermittlung der Kunsthalle.
Die vielfältigen Fotografien zeigen mit dem Nordbahnviertel, dem Gelände des ehemaligen Nordwestbahnhofs und der Seestadt Aspern zum einen verschiedene Stadtentwicklungsgebiete und sind zum anderen auch technisch, thematisch und von der Art ihrer Präsentation her vielfältig:
- Fotografiert wurde digital, aber auch mit analogen Kameras und mit Polaroidkameras aus dem Bestand der Akademie der bildenden Künste.
- Thematisch gibt es in der Ausstellung an einer Wand einen Bereich mit Architekturfotos, aber auch einen Bereich, in dem die Kontraste zwischen neu gebauten und noch nicht gebauten Gebäuden, zwischen Stadt und Natur, im Fokus stehen, und gegenüber einen anderen, in dem es um vor allem um die Menschen in der Stadt geht.
- Präsentiert werden die Bilder zum Teil in Vitrinen (Polaroids) sowie zum Teil ohne und zum Teil mit Rahmen. Zum Teil hängen sie an der nackten Betonwand der Kunsthalle, zum Teil kleben sie auf farbigen Hintergründen, die ihre Existenz einem Missgeschick verdanken: „Es sind unscharfe Fotos aus dem Projekt, die beim Fotografieren mit einer analogen Kamera entstanden sind und nun vergrößert einen interessanten Hintergrund ergeben”, erklärt Kunstvermittler Michael Simko.
Dass Kunst nicht unbedingt planbar ist, sondern auch aus Zufällen entstehen kann, haben die Jugendlichen in diesem Projekt ebenso gelernt wie etwa Perspektiven zu fotografieren. „Das war am Anfang schwer, doch irgendwann haben wir ein Gespür für das Fotografieren von Landschaften entwickelt, das so ganz anders ist als die Arbeit im Studio“, erzählt Trung Nguyen. Sein Bild von einer U-Bahn, die über eine Brachfläche der noch im Entstehen befindlichen Seestadt Aspern fährt, zeigt die Konkurrenz zwischen der wachsenden Stadtstruktur in Form der die Landschaft durchschneidenden U-Bahn-Trasse und der wachsenden Natur, die sich in Gestalt mit einer unscharfen Gräserblüte im Vordergrund zu behaupten versucht – ein Kampf, der zumindest hier vermutlich zu Ungunsten der Natur ausgehen wird.
„Ich bin begeistert, wie toll ihr das gemacht hat”, lobte die österreichische Fotografin Elfie Semotan bei der Vernissage: „Die Fotos sind nicht nur sehr schön, sondern auch sehr schön zusammengestellt und aufgehängt.” Indem sie die Lehrlinge vor Beginn ihrer Arbeit durch ihre eigene Ausstellung in der Kunsthalle geführt hatte, gab sie entscheidende Impulse, hat sie in der Schau mit dem Titel „No Feeling ist Final” doch den Charakter der vielschichtigen Stadt Skopje in einer Fotoserie festgehalten. Weil sich beide Ausstellungen nur durch eine Ebene voneinander getrennt in einem Saal befinden, korrespondieren ihre Eindrücke von der nordmazedonischen Stadt nun auf spannende Weise mit denen der Lehrlinge von Wien.